Mias Geschichte – 110.
In den nächsten Wochen versuchte Flora einen neuen Job zu finden, aber es stellte sich heraus, daß so, wie sie jetzt war, sie niemand einstellen würde. Um wenigstens nicht ganz aus der Übung zu kommen, machte sie ein paar wochenweise Vertretungen in kleinen Arztpraxen. So waren wir manchmal getrennt für eine, zwei Wochen. Flora wurde immer trauriger, aber alles was wir beide versuchten, hatte keinen Erfolg. Wenn wir dann wieder zusammenwaren, hingen wir aneinander wie die Kletten, liebten uns stundenlang. „Sweetie, wenn du erst operiert bist, ist es wieder einfacher, aber schau, wir haben hier nur noch zwei Monate, dann ist mein Semester zu Ende, und du hast mir versprochen, mit mir nach England zu kommen.
Sieh es doch als längeren Urlaub an, such doch schon mal nach einer Klinik, wo du dich operieren lassen kannst“. „Vielleicht hast du recht, Darling“, antwortete sie. In den nächsten vier Wochen suchte sie gezielt, zuerst im Internet, dann sah sie sich einige Kliniken an. Die Operation würde viel zu lange dauern, sie wollte zuerst mit mir zusammen nach England ziehen, sich dann dort umsehen. Auf keinen Fall wollte sie wochenlang alleine sein. „Das wäre auch für mich furchtbar, ich brauche dich doch“, lächelte ich. Wir unterhielten uns darüber, wie wir meinen Eltern beibringen konnten, daß wir uns liebten und so glücklich waren. „Es sind doch deine Eltern, die werden doch auch nur dein Bestes wollen“, meinte Flora. „Meine Mutter hat sich glaube ich schon ganz gut damit abgefunden, daß ich anders bin, aber mein Vater ist sehr traditionell eingestellt“, antwortete ich, „trotzdem werde ich alles versuchen, und auf gar keinen Fall werde ich dich aufgeben, eher lasse ich die Firma sausen“. „Ach, wir müssen halt Geduld haben“, meinte Flora.
Dann kam der Tag, an dem sich alles änderte. Wir saßen beim Mittagessen, als der Anruf kam. Es war jemand aus der Firma: Ich müsse gleich nach Hause kommen, es wäre ein schreckliches Unglück passiert, meine Eltern wären beide umgekommen. „Was ist denn passiert“? fragte ich. „Es ist so schrecklich, es gab eine Explosion, ihr Elternhaus liegt in Trümmern. Nicht nur ihre Eltern, auch das Hauspersonal hat nicht überlebt“. Ich konnte nur antworten: „Wir kommen sofort“. Bleich saß ich auf meinem Stuhl, Flora fragte, was passiert sei. Mit leerer Stimme beantwortete ich ihre Frage. Sie übernahm die Regie, buchte Flüge, reservierte ein Hotelzimmer, packte Koffer. Ich ließ mich einfach führen, erst im Flugzeug überkam es mich. Ich glaube, ich heulte mehrere Stunden, über den Tod meiner Eltern, wie das Unglück geschah, vor allem darüber, daß ich mich mit ihnen nicht mehr aussöhnen konnte.
Zu Hause angekommen, meldete ich mich als erstes bei der Polizei. Dort erfuhren wir, daß die Ursache des Unglücks geklärt sei. Vor ein paar Wochen wurde eine neue Gasleitung im Keller gelegt, sie war offensichtlich nicht richtig abgedichtet und über Wochen strömte Gas in den Keller. Dieser Keller wurde nur selten betreten, in ihm lagerten Dinge, die nicht mehr gebraucht wurden, aber zu schade waren, um weggeschmissen zu werden. Am Ende des Kellers lag die Heizungsanlage. Langsam suchte sich das Gas seinen Weg, bis es schließlich in den Heizungskeller eindrang. Nun, beim nächsten Anspringen der Heizung, das war wohl am Morgen, als das Wasser aufgeheizt werden sollte, gab es eine riesige Explosion. Die Gasmenge war so groß, das ganze Haus wurde förmlich in die Luft gesprengt. Selbst das Pförtnerhaus, das ganz am Eingang des Grundstücks stand, etwa Hundert Meter vom Haus entfernt, wurde von den herumfliegenden Teilen stark beschädigt.
Da von Seiten der Polizei der Unfall geklärt war, konnten auch die Toten, oder besser, was von ihnen übrigblieb, zur Beerdigung freigegeben werden. In den nächsten Tagen hatten wir zu tun mit den Vorbereitungen, Flora war überall mit dabei, half mir bei Allem. Außerdem besuchten wir mein Elternhaus, oder besser gesagt, das Trümmergrundstück. Wir fuhren in die Firma, um dort die Aufräumarbeiten in Gang zu bringen, fanden aber schon wieder das nächste Problem. Wir fanden ein einziges Tohuwabohu. Mein Vater führte die Firma wie ein Patriarch, sein Vertreter, Mr. Smith, hatte, als er vom Unglück meiner Eltern erfahren hatte, einen Herzinfarkt bekommen vor Aufregung, er war schon lange herzkrank. Mr. Smith lag in der Klinik und rang mit dem Tode. Flora bemerkte, daß hier etwas nicht stimmte. „Du Diana, können wir hier irgendwo miteinander sprechen“? fragte sie. Ich selbst hatte noch nichts bemerkt, aber Flora öffnete mir die Augen. Wir riefen Papas Sekretärin, sagten ihr, daß in einer halben Stunde alle leitenden Damen und Herren sich im Konferenzzimmer einfinden sollten, um die Situation zu besprechen.
Leider zeigte sich, daß nicht alle hinter mir standen, einige der Leitenden Herren mißachteten meine Einladung. Sie wußten, daß ich mich mit meinen Eltern gestritten hatte und hofften darauf, in Zukunft die Firmen nach ihrem Gusto leiten zu können. Bisher war ich in einer Art Dämmerzustand, jetzt packte mich eine unbändige Wut. Ich dankte denen, die gekommen waren, bat sie, alle Probleme zu berichten, damit wir eine gemeinsame Marschrichtung für die nächsten Tage festlegen konnten. Die Konferenz dauerte über drei Stunden, dann war alles besprochen, einige Aufgaben hatte ich neu verteilt. Als nur noch Flora und ich im Zimmer waren, legte sie ihre Hand auf meine und sagte: „Du hast es richtig gemacht, sie sind alle zufrieden abgezogen“. „Aber was ist mit den anderen“? fragte ich. „Frag doch euren Anwalt“, meinte Flora nur. Das ist eine gute Idee. Ich ließ mir von Vaters Sekretärin, sie mußte neu sein, die Telefonnummer unseres Anwaltes geben und kündigte meinen umgehenden Besuch an.
Unser alter Anwalt, Dr. Drake, empfing uns, wünschte mir sein Beileid und fragte nach dem Anlaß des Besuches. „Ich habe ein Problem, Dr. Drake“, begann ich unumwunden und schilderte ihm die Situation in der Firma. „Ich kann vor der Beerdigung das Testament nicht eröffnen, bedauerte er, fügte aber hinzu, daß es in den letzten Jahren keine Änderung des Testamentes gegeben habe. „Danke, Dr. Drake“, sagte ich. Wir verließen das Büro, Flora fragte mich: „Und, was heißt das jetzt“? „Sweetie, das alte Testament meiner Eltern kenne ich, ich werde wohl der Alleinerbe sein, es gibt lediglich ein paar Vermächtnisse. An diesem Abend kehrte ich endgültig ins Leben zurück, nachdem ich heulend mehrere Stunden in Floras Armen gelegen hatte.
Der Tag der Beerdigung war noch ein schwerer Tag, als die Särge in die Erde versanken, wurde mir klar, daß ich meine Eltern nie mehr sehen würde. Zwei Tage später war die Testamentseröffnung zunächst verlaß Dr. Drake alle Vermächtnisse, sein Boot vermachte Vater seinem Yachtclub, eine stattliche Summe ging an seine Universität, noch einige andere Institutionen wurden bedacht, unsere persönlichen Angestellten, die das Unglück überlebt hatten, wurden bedacht. All unser anderer Besitz geht an unseren Sohn, mit dem Auftrag, unser Lebenswerk fortzuführen. Nun war es amtlich, ich war der alleinige Erbe, es gab keine Einschränkung. Wir gingen an diesem Tag noch nicht in die Firma, überlegten, wie unser Leben weitergehen sollte. Ich bat Flora, mir noch in der ersten Zeit in der Firma zur Seite zu stehen, bot ihr einen Geschäftsführerposten an. „Darling, gerne helfe ich dir, aber nur eine Zeitlang. Du weißt, ich bin Ärztin, und als solche will ich wieder arbeiten. Wir werden meine Operation noch etwas verschieben, bis du mich nicht mehr brauchst, aber dann benötige ich deine Hilfe. Ich dankte ihr, küßte sie, es war ein langer und befreiender Kuß.
Es gab so viel zu regeln, wir überlegten, wo wir übergangsweise wohnen würden, denn bis ein neues Haus gebaut wäre, würde lange Zeit vergehen. „Du, ich habe in der Firma gesehen, daß es dort Werkswohnungen gibt, vielleicht ist ja eine frei“. „Willst du das wirklich“? fragte ich. „Ist doch das beste, wir können morgens zur Arbeit laufen und vor allem, du bekommst alles mit, was in der Firma vorgeht“. „Sweetheart“, sagte ich, „dort wohnen auch unsere Fahrer, es geht manchmal etwas derb zu“. „Ja, glaubst du ich bin ein verwöhntes Püppchen“? fragte Flora. „Entschuldige, hast ja recht, vielleicht ist es wirklich das Beste“.